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Kolumbien: Der 6. November 1985 als Symbol der Zerrissenheit

| Bild: © n.v.

Am 6. November 1985 stürmten 35 bewaffnete Guerillas der M19 den Justizpalast in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá und nahmen ungefähr 300 Personen als Geiseln. Am nächsten Tag lag der Palast in Schutt und Asche, 94 Tote wurden geborgen und zwölf Personen gelten noch heute als vermisst.

Kolumbien hat bis zum heutigen Datum große Schwierigkeiten mit rebellischen Guerillagruppierungen, wie die problematischen Verhandlungen mit der FARC beweisen. Die Gruppen können teilweise bis in die 1950er Jahre zurückverfolgt werden, doch die Ursachen liegen viel tiefer.

Eine dieser Ursachen war der Agrar-Konflikt in Kolumbien. Der Prozess der Bevölkerung und der Kolonalisierung des Landes behinderte die Entwicklung der Agrarkultur. Durch die Einrichtung von großen Gutshöfen wurden die einheimischen Bauern von ihren Ländern vertrieben und mussten sich in solch unwichtigen Randgebieten niederlassen, dass sie kaum noch mit dem politischen und wirtschaftlichen Leben des restlichen Landes in Verbindung standen. Die Interessen der Großgrundbesitzer verhinderten jede Chance auf eine Agrarreform. Die vertriebenen Bauern unterstützten die Guerillas der 1960er und 70er Jahre und wurden schließlich diejenigen, die als erste mit der Kokaproduktion in Kolumbien begannen.

In der konfliktvollen Zeit „la Violencia“ in den 1950er Jahren, die durch Streitereien zwischen zwei traditionellen politischen Parteien initiiert wurde, starben über 200.000 Menschen, und unzählige Kleinbauern waren gezwungen, in den Städten Schutz zu suchen. Der Einfluss dieser Periode auf die in den 60ern und 70ern aufkommenden Guerillabewegungen lag auch darin, eine Kultur etabliert zu haben, die dazu neigte, mit Gewalt auf soziale Konflikte zu antworten.

Das Resultat des Bürgerkriegs war ein Zusammenschluss der beiden verfeindeten Parteien zur Nationalen Front. Der Beschluss beinhaltete, dass sie sich mit der Regierungsverantwortung abwechseln würden, verdammte aber gleichzeitig viele andere Parteien in die Illegalität. Opposition konnte nur noch innerhalb der traditionellen Parteien in legaler Weise entstehen. Die Guerillabewegungen waren eine wütende Antwort auf diese politische Exklusion und im Fall der M19 eine gezielte Reaktion auf die Wahlmanipulationen von 1970, die gegen die Partei des Ex-Diktators Gustavo Rojas Pinilla (Alianza Nacional Popular/ Anapo) gerichtet waren.

Die M19 entstand am 19. April 1973 aus einer Gruppe Andersdenkender innerhalb der Anapo und kritischer junger Leute, besonders aus der FARC und der kommunistischen Partei, die bewaffneten Widerstandsgruppen als Langzeitstrategie skeptisch gegenüberstanden. In dieser Weise wurde die M19 zu einer Alternative zu den etablierten Guerillagruppen, die meist im ländlichen Raum agierten und ideologisch mit je einem kommunistischen Land verwurzelt waren. 1)

Die Haupteinnahmequelle für die Gruppe war zunächst die Erpressung und Entführung von Drogenbossen. Gleichzeitig unterhielten die M19 aber auch geschäftliche Beziehungen zu dem kolumbianischen Drogenboss Jamie Guillot-Lara, dessen Drogenlieferungen sie für Waffenlieferungen beschützten. Nach einigen Verhandlungen verbesserten sich auch die Beziehungen zu Pablo Escobars Medellín Kartell. Die Meinungen gehen auseinander, ob die Guerillas von dem Kartell bezahlt wurden, den Überfall auf den Justizpalast zu verüben. Es gibt keine klaren Beweise, aber die Umstände deuten darauf hin. Die Attacke fand an demselben Tag statt, an dem der Oberste Gerichthof ein Gesetz über die Auslieferung von Kriminellen an die USA verabschiedete. Eine der Forderungen der M19 war auch die Aufhebung des Beschlusses, obwohl kein Mitglied der Gruppe in den USA gesucht wurde. 2)

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Präsident Belisario Betancur Bild: ©Fernilas1980 – Wikimedia Commons

Die Hauptforderung der Guerillakämpfer war es, den Präsidenten Belisario Betancur wegen Verletzung der Vereinbarungen zum Waffenstillstand vor Gericht zu stellen. Was folgte, ist bis heute in das kollektive Gedächtnis Kolumbiens eingebrannt. Betancurt lehnte jegliches Angebot zu Verhandlungen ab und setzte stattdessen alles auf den Gegenschlag. Unter dem Befehl des Kommandanten der Kavallerieschule und Schwiegersohns des Verteidigungsministers Oberst Plazas Vega wurde der Palast mit Panzern gestürmt. Zwischen Geiseln und Guerillas wurde nicht länger unterschieden. Der gefangene oberste Staatsrichter Reyes Enchandia flehte Präsident Belisario Betancurt in einem Aufruf im Radio an, einen Waffenstillstand zu verordnen und das Leben der Geiseln zu schützen. Seine Bitte wurde ignoriert und nur kurze Zeit später starb der Richter gemeinsam mit 90 weiteren Personen, darunter Zivilisten und Magistrate. Das einzige Ziel der Armee schien die Ausschaltung aller M19-Mitglieder gewesen zu sein – ohne Rücksicht auf Verluste. In der Nacht zum 7. November brach ein Großbrand aus, der nahezu das gesamte Gebäude verzehrte. Noch heute wird über die Ursache des Brands spekuliert. Einige gehen davon aus, dass die M19 den Brand legten, um Auslieferungsurkunden zu vernichten. Andere sind überzeugt, dass Militärs die Gelegenheit nutzen, um unliebsame Untersuchungsurkunden zu vernichten.

Unklar ist auch, was mit den zwölf Personen geschah, die sich zur Zeit der Belagerung in der Kantine des Gebäudes aufhielten. Acht Kantinenangestellte, drei Besucher und ein Guerilla-Mitglied waren weder unter den Befreiten, noch unter den Getöteten. Ihre Familien erhielten zunächst Hinweise, dass sie sich in der Kavallerieschule befanden. Dort wurden Personen vernommen, die sich nicht ausweisen konnten oder die für Guerillas gehalten wurden. Doch bis heute gibt es keine eindeutige Spur der Verschwundenen.

Ermittlungen kurz nach dem Einsatz ergaben, dass die Vermissten in der vierten Etage des Palastes verbrannt seien. Aus dem Bericht ging zudem hervor, dass die M19 die Schuld für alle Toten trägt. Der Einsatz der Armee wurde im Großen und Ganzen für angemessen erklärt. 1998 legte die M19 die Waffen nieder und wurde zu einer politischen Partei. Den Kämpfern wurde Amnestie gewährt. Folglich war das Interesse an einer Aufklärung der wahren Begebenheiten auf beiden Seiten äußerst gering.

Doch die Angehörigen der Vermissten gaben nicht auf. 20 Jahre nach dem Verschwinden ihrer Kinder, Elternteile oder Geschwister erreichten sie schließlich, dass der Fall neu aufgerollt wurde. Auf der Anklagebank saßen diesmal jedoch nicht M19-Mitglieder, sondern Oberst Plazas Vega und einige weitere hohe Offiziere. Die Beweise der Staatsanwältin Angela Buitrago ließen die Ereignisse des 6. und 7. Novembers in einem neuen Licht erscheinen. Videoaufnahmen zeigten, wie das Kantinenpersonal lebend aus dem Palast geführt wurde. Sie zeigten auch einen Magistraten, der von Soldaten begleitet das Gebäude verlässt. Dieser Richter wurde jedoch offiziell am 9. November erschossen im Justizpalast geborgen. Für Buitrago stand fest: In der Kavallerieschule wurden Unschuldige gefoltert und ermordet. Oberst Plazas Vega, der damalige Kommandant der Kavellerieschule bestritt, dass die Verschwundenen den Justizpalast lebend verlassen hätten. Auch erklärte er, dass der Geheimdienst Personen in der Kavallerieschule ohne sein Zutun verhört hätte.

Die Beweise der Staatsanwaltschaft wurden jedoch als derart belastend angesehen, dass Plazas Vega am 9. Juni 2010 zu 30 Jahren Gefängnis und 10 weiteren Jahren Berufsverbot verurteilt wurde. Elf weitere Offiziere wurden für schuldig erklärt.

Eine Woche nach dem Urteilsspruch verließ die Richterin gemeinsam mit ihrem Sohn Kolumbien – aus Angst um ihr Leben. Angela Buitrago wurde drei Monate später als Staatsanwältin am Obersten Gerichtshof entlassen. Die Familienangehörigen haben bis heute nicht die Überreste ihrer Vermissten erhalten. Plazas Vega ist noch immer auf freiem Fuß. Er hat inzwischen bereits den siebten Anwalt und wiederholt Berufung eingelegt. 3)

Auch 30 Jahre nach dem brutalen Ende der Belagerung des Justizpalastes ist Kolumbien noch immer ein zerrissenes Land. Manche Guerillagruppen sind in kriminelle Banden zersplittert, andere profitieren im großen Stil vom illegalen Drogenanbau und –handel. All diese Konfliktherde sind auf den gleichen Ursprung zurückzuführen. Die Kolonialisierung hat tiefe Klüfte in das Land und seine Bevölkerung gerissen. Der Kampf um den Justizpalast in Bogotá hat einen Einblick in den grausamen Abgrund der Krise gewährt.

Fußnoten (Hinweise, Quellen, Links)

  1. Mauricio García Durán, Vera Grabe Loewenherz, Otty Patiño Hormaza: The M-19’s Journey from Armed Struggle to Democratic Politics – aufgerufen am 9.7.2015
  2. Mark S. Steinitz: The Terrorism and Drug Connection in Latin America’s Andean Region – 8.7.2015
  3. arte-Dokumentation: Kolumbiens Trauma. Verschwunden im Justizpalast – aufgerufen am 9.7.2015

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